Herzensarbeit togge

Wir sind zu verschieden – na und? Auseinandersetzungen in Corona-Zeiten

Als mein Mann und ich uns vor 24 Jahren kennenlernten, wussten wir praktisch von Anfang an: Wir sind zu verschieden! Dennoch: Die Anziehung war gross und ebenso gross waren unsere Streitigkeiten. Wir waren zwei Dickschädel. Wir verstanden nicht, warum der andere uns nicht endlich verstehen konnte. Wie konnte er so anders denken? Wie konnte er so andere Vorlieben haben? Wir dachten oft an Trennung…

Wir machten einander Vorwürfe, versuchten, einander von der eigenen Meinung zu überzeugen und werteten die Meinung des andern ab.

Manchmal sagten wir zueinander – und das kommt auch heute noch vor: «Weisst du, ich fühle mich allein in dieser Beziehung. Allein und auf verlorenem Posten». Zu unserer Überraschung ging es da beiden gleich. Beide fühlten sich allein, beide fühlten sich nicht gesehen, beide dachten, der andere bestimme alles….

Und so lernten wir viel übereinander. Mathias lernte über mich als Frau, ich lernte über ihn als Mann und vor allem lernten wir über uns als Mensch. Denn die belastenden Gedanken und die quälenden Gefühle waren bei beiden – verschieden oder nicht – der Grund des Elends.

Mathias sagte jeweils, wenn wir wieder einmal an unserer Verschiedenheit verzweifelten:

 «Wir sind verschieden – na und? Das macht doch nichts!» Das war ein erlösender Gedanke!

 

Das ging wie eine leichte Erschütterung durch mich hindurch und lockerte mein fixes Gedankengebäude, das da hiess: «Wir sollten möglichst ähnlich sein, wir sollten uns immer nah sein, wir sollten uns in jeder Hinsicht verstehen und die gleichen Dinge mögen!»

Ich erkannte, dass ich mich in einen Mann verliebt hatte, der in vielerlei Hinsicht gegensätzlich war zu mir. Ich hatte mich nicht mit einem eingelassen, der gleich tickte wie ich – und das wohl mit gutem Grund (obwohl gänzlich unbewusst :-)).

Allerdings gab es da etwas Tiefes, das uns von Anfang an verband und bis heute andauert. Dieses Schöpfen aus der gleichen Quelle hat uns über all die Jahre immer wieder geholfen, durch den Schmerz zu gehen, unsere Überzeugungen zu überdenken, uns voneinander inspirieren zu lassen und aneinander zu wachsen.

 

 

Denkpause: Was verbindet euch? Wo gibt es (scheinbar) unüberwindbare Grenzen?

 

Das Verbindende finden wir häufig, wenn wir an die Anfangszeit unserer Beziehung denken: Da hat uns etwas fasziniert am Gegenüber. Etwas hat uns angezogen. Es ist nicht «blinde» Verliebtheit, die uns zueinander führt, sondern eine tiefliegende Intelligenz, die uns für den Moment an das genau richtige Gemisch an Gemeinsamkeiten und Gegensätzen heranführt, das uns zum Lernen, Wachsen und uns Öffnen anregt. Es geht meiner Ansicht nach in einer Beziehung nicht einfach nur ums Schönhaben, Spass haben und sich gegenseitig die Wunden lecken, es geht um einen Wachstumsplan des Lebens.

Dieser Prozess vollzieht sich wohl bei den wenigsten schmerzlos. Denn in unserer Partnerschaft tauchen unweigerlich die als Kind verdrängten Bedürfnisse und Sehnsüchte wieder auf und möchten endlich gesehen werden. Das ist gut und soll so sein, denn die Schmerzen und Verzerrungen möchten geheilt werden.

Aber Achtung! Nicht unser Partner/Partnerin ist der Heiler, die Mutter, der Vater, die Quelle aller nicht empfangener Liebe! Welch grenzenlose Überforderung wäre das!

Wir selber dürfen unser Herz aufmachen für unsere verletzten, wütenden, traurigen und enttäuschten Gefühle. Unser eigenes Herz ist unendlich gross und lebendig – wie ein Ozean. Es bewertet und beurteilt uns nicht. Es begegnet allen unseren Gefühlen mit Verständnis, Mitgefühl und Achtung – wenn wir nur still werden und es zulassen.

Nicht unser Partner, sondern unser Herz hält für uns den Zugang zur grossen Energiequelle offen. Wir mögen sie Gott, Liebe, Leben oder wie auch immer nennen.

 

Es braucht Mut, die eigenen Gefühle zuzulassen und durch den Schmerz hindurchzugehen, weil wir denken, der Schmerz höre nicht mehr auf. Doch das ist nur ein Gedanke. Eine unüberprüfte Vorstellung. In Wirklichkeit finden wir tiefen Frieden und Stille, wenn wir unseren Gefühlen Raum geben, sie da sein lassen und ihnen mit Verständnis und Respekt begegnen.

Wir merken, dass die Schmerzen, die unser Partner in uns auslöst, in Wirklichkeit nichts mit ihm zu tun haben, sondern alte Wunden sind, die geheilt werden möchten. Seien es Verletzungen von früher oder alte, überholte Überzeugungen, die wir nie infrage gestellt hatten.

Auch abgesehen von unseren engsten Beziehungen ist die Zeit reif wie nie zuvor, uns in unserer Verschiedenheit respektieren zu lernen. Ich übe es täglich und merke, wie schwer es mir manchmal fällt. Die Corona-Krise  – und unsere diametral auseinandergehende Reaktion darauf – führt uns diese Notwendigkeit überdeutlich vor Augen.

Nie für möglich gehaltene Risse ziehen sich quer durch die Gesellschaft und quer durch die Familien. Die Standpunkte werden mit heftigen Emotionen verteidigt. Warum sind die Emotionen dieser Zeit so heftig? Weil es um Angst geht. Und meistens um nicht eingestandene Angst. Die einen haben Angst vor dem Virus, vor Ansteckung, Krankheit, vor dem eigenen Tod, dem Tod von Angehörigen und vor Kontrollverlust. Die andern haben Angst vor Fremdbestimmung, Einschränkung, Machtmissbrauch, Beschneidung der persönlichen und gesellschaftlichen Freiheit – und vor Kontrollverlust.

Es geht um das Gefühl von Angst. Dieses Gefühl ist mächtig und unbewusst. Kaum jemand gibt es zu, weil er es nicht fühlt. Es wird verdrängt und mit Argumenten wegrationalisiert. Und gerade deshalb beherrscht es uns. Deshalb werden wir emotional, wenn jemand diesbezüglich anderer Meinung ist.

 Lasst uns still werden und mit dem Scheinwerfer Licht in unser Inneres werfen. Was ist es, was uns Angst macht? In welchem der beiden Lager (oder vielleicht in beiden) ist unsere Angst angesiedelt? Wo spüren wir die Angst im Körper? Was braucht sie von unserem Herzen? Gefühlt werden? Erlaubnis da zu sein? Verständnis?  Mitgefühl?  Dass wir bei ihr sind und sie nicht allein lassen? Respekt? Als Gefühl erkannt werden?  –  Atmen, fühlen, Raum geben….

Es ist eine riesige Chance, die wir jetzt als Menschheit haben! Wir dürfen aufwachen aus unseren Ängsten, wir dürfen sie fühlen lernen, statt sie in der Welt auszuagieren. Wir dürfen unsere Sehnsucht für eine neue Welt fühlen und uns vorstellen, wie es wäre, wenn diese Sehnsucht bereits erfüllt wäre. Das schöne Gefühl, das dabei auftaucht, braucht Raum in uns und möchte viel gefühlt werden!

Dabei werden wir kreativ und wir beflügeln uns gegenseitig – Dank unserer Verschiedenheit!

 

Es braucht jetzt neue Ideen, verschiedene Ideen, Ideen, die angst- und konkurrenzfrei aufgenommen und weitergesponnen werden. Ideen, die klar, ehrlich und kraftvoll in die Welt getragen werden. Es braucht Menschen, die kritisch und unabhängig hinterfragen und auf ihre eigene Urteilsfähigkeit vertrauen. Es braucht kreative Eigenständigkeit. Es braucht gemeinsames Erschaffen, Ko-Kreativität, in unseren engsten Beziehungen, in unseren Familien, in unserer Gesellschaft und Politik, in unserer Welt!

Eine Gelegenheit, in einer kleinen Gruppe ko-kreativ zu sein ergibt sich am 6. Juni am Tagesworkshop in Oberbuchsiten mit dem Titel «Abgetrennt oder verbunden». Der Workshop darf durchgeführt werden, da die Abstandsregeln eingehalten werden können und die Gruppe nicht zu gross ist. Es gibt noch freie Plätze, meldet euch demnächst an! Ich freue mich, mit euch zusammen ko-kreativ zu sein!
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