Herzensarbeit togge

«Er rastet aus wegen Kleinigkeiten!» – Über die Kunst, konstruktiv zu streiten

Ich erzähle heute etwas Persönliches – denn mit Streit kenne ich mich aus 🙂 .

Seit 28 Jahren bin ich mit meinem Mann zusammen. Bin ich glücklich? Ja, ich darf voller Dankbarkeit sagen, dass ich unendlich glücklich bin in unserer Beziehung und immer noch glücklicher werde!

Streiten wir? Ja, wir streiten! Und zwar nicht selten! Manchmal gibt es längere Ruhephasen. Wenn aber in unserem Leben viel Spannendes und Neues geschieht, gibt es immer mal wieder Grund, uns auseinanderzusetzen. Ich würde sagen, wir sind zu richtigen Streitexperten geworden :-).

Über die Jahre wurde unser Streit immer konstruktiver. Heute sind wir an einem Punkt, wo wir merken, dass wir nach jedem Streit etwas Neues dazulernen. Nach jedem Streit wird unsere Beziehung erfüllter, achtsamer, verständnisvoller, authentischer.

Gerade gestern hat mein Mann als Fazit nach einem Streitgespräch gesagt:

«Wenn der Streit destruktiv ist, fallen wir in alte Verhaltensmuster zurück. Wenn er konstruktiv ist, lernen wir etwas dazu und betreten Neuland.»

 

Ein höchst erhellender Punkt wurde in den letzten Jahren vor allem durch ihn angeregt:

Wenn jemand einen kritischen Punkt anspricht, fallen wie beide jeweils zunächst in eine düstere Stimmung voller Widerstände. Bis mein Mann irgendwann etwas sagt wie:

 

«Ist das nicht wirklich cool, wie wir streiten können? Ist es nicht ein wunderbares Leben, wenn jeder aussprechen darf, was ihn beschäftigt? Es ist schön, wenn die Meinungen aufeinanderprallen. So können wir zu mehr Verständnis und Achtsamkeit finden.»

 

Das ist jeweils der Moment, wo ich ein wenig aus meiner Verbohrtheit auftauche und ein schwacher Lichtstrahl mein Herz erreicht. Es kommen Gedanken wie: «Ach so, man könnte dem Streiten eine gute Bedeutung geben. Ist es denn wirklich so verkehrt, dass wir streiten? Ich kann einverstanden sein, mit dem Moment, wie er gerade ist. Ich darf darauf vertrauen, dass sich etwas öffnet und nicht schliesst. Ich habe etwas Unangenehmes ausgesprochen, was mich schon länger beschäftigt. Jetzt haben wir die Chance, unser Verständnis für uns selber und für unser Gegenüber zu erweitern….»

Wenn wir es bis an den Punkt schaffen, entspannen wir uns beide und finden sogar zum Humor zurück. Über Nacht im Schlaf ist dann oft die Zeit, wo die Essenz dieser Auseinandersetzung im positiven Sinn einsickert und am nächsten Morgen ist tatsächlich mehr Selbsterkenntnis da und mehr Verständnis fürs Gegenüber.

Es gibt auch Momente, wo wir beide «sauer» ins Bett gehen. Jeder meditiert für sich noch vor dem Einschlafen und versucht sich selbst wieder in eine friedliche und ruhige Stimmung zu bringen. Ich öffne mein Herz für die negativen Gefühle und schlafe dann ein.

Am nächsten Tag braucht es manchmal ein Nachgespräch. Oft ist die Stimmung auch einfach wieder gut, da jeder für sich über Nacht zurückgefunden hat zu positiven Gefühlen, Einsichten und Erkenntnissen.

 

Ich möchte dich ermutigen, konstruktiv zu streiten! Warum? Konstruktiv streiten hält die Beziehung lebendig und ehrlich. Wenn zwei unterschiedliche Menschen einen gemeinsamen Weg gehen möchten, sind Auseinandersetzungen fast unausweichlich.

 

Wenn ein Paar mir sagt: «Wir streiten nie!», dann ist das für mich in der Regel kein gutes Zeichen. Denn das heisst meistens, dass sich ein(r) der beiden anpasst und nachgibt. Es kann auch sein, dass die Stimmung bereits so erkaltet ist, dass es «keinen Sinn mehr macht» zu streiten. Man will keine Energie mehr investieren in eine Auseinandersetzung.

Oder es herrscht Angst vor einem Streit und beide (oder nur einer) gehen wie auf Eiern, damit ja kein falsches Wort fällt, an dem die Beziehung zerschellen könnte.

Konstruktiv streiten ist eine Kunst, in die es sich lohnt zu investieren. Durch konstruktives Streiten bleibt die Beziehung warm, erfüllend und lebendig. Sie wird zu ständigem Wachstum angeregt. Du selbst wirst dadurch offener, mutiger und freier. Gleichzeitig wirst du achtsamer und reflektierst dich genauer.

Es gibt auch Paare, die lebendig, authentisch und auf Augenhöhe sind, ohne sich zu streiten. Das hängt von Temperament und Persönlichkeitstyp ab.

 

Hier eine Checkliste zum konstruktiven Streiten:

 

  • Finde einen Zeitpunkt, wo ihr zu zweit genügend Zeit habt euch auszutauschen.
  • Wähle deine Worte in Ruhe, sorgfältig und bedacht.
  • Spüre deinen Körper und deinen Atem immer wieder, während dem ganzen Gespräch.
  • Sprich von dir, benenne deine Gefühle.
  • Vermeide Vorwürfe, Kritik, Forderungen oder Ratschläge.
  • Vermeide Verallgemeinerungen wie «immer» , «nie», «man sollte», etc.
  • Sag «es kann sein, dass ich nicht recht habe» und meine das auch wirklich.
  • Sag ganz konkret was dich stört, wie du dich dabei fühlst und was du dir wünschst.
  • Achte auf deinen Tonfall!
  • Mach keine Anweisungen, sondern formulier eine Bitte.
  • Hör deinem Gegenüber aktiv zu.
  • Bitte dein Gegenüber, dir zuzuhören.
  • Lass dein Gegenüber ausreden, auch wenn du denkst, du weisst jetzt, was kommt.
  • Nimm deine eigenen Widerstände, deine Wut und Enttäuschung, dein Ärger, deine Trotzreaktion und deine Resignation bewusst wahr. Vielleicht gelingt es dir, während dem Gespräch dein Herz für deine Gefühle zu öffnen.
  • Vertrau darauf, dass dein Gegenüber dich hört. Auch wenn er/sie jetzt gerade im Widerstand ist und mit seinen/ihren eigenen Gefühlen zu kämpfen hat.
  • Das Wichtigste: Sei einverstanden damit, dass ihr jetzt streitet. Mach dir bewusst, dass dieser Streit ein wichtiger Schritt ist auf eurem Weg der Liebe. Er wird euch zu Wachstum und Erkenntnis führen. Sag innerlich zu dir: «Es ist in Ordnung, dass wir streiten.»
  • Grundlegend: Bleib im Gespräch! Verfalle nicht in stunden- oder gar tagelanges Schweigen aus Rache oder Trotz.

 

Wenn du eher introvertiert und /oder angepasst bist, frage dich folgendes:

 
  • Warum spreche ich gewisse Dinge nicht an, die mich beschäftigen?
  • Was macht mir Angst, wenn ich sie anspreche?
  • Denke ich, dass mein Gegenüber ausrastet, sich von mir trennt, tagelang nicht mehr mit mir spricht?
  • Was hindert mich, meine Gefühle offen zu benennen?
  • Warum fällt es mir schwer, meine Gedanken zu teilen?
  • Passe ich mich dem Frieden zuliebe an?

An diesen Punkten ist für einmal nichts Schlechtes. Tust du es jedoch oft, verlierst du deine Lebendigkeit und Ehrlichkeit und damit auch deine Leidenschaft.

 

Wenn du eher impulsiv veranlagt bist und leicht ausrastest:

 

  • Spür deinen Körper und deinen Atem während dem du sprichst und vor allem, während dem du zuhörst.
  • Hör dir selber und deinem Tonfall zu. Lass deine Stimme nicht allzu laut werden.
  • Vermeide unter allen Umständen Beschimpfungen jeglicher Art!  Diese sind tabu und verletzen dein Gegenüber unnötig.
  • Verlass den Raum und teile mit, dass du dich zuerst beruhigen willst. Geh spazieren, rennen oder velofahren. Sing oder schrei laut an einem Ort, wo dich niemand hört. Geh erst zurück, wenn du dich beruhigt hast.
  • Schau, ob du jetzt zulassen kannst, dass eurer beider Gefühle berechtigt sind.

Es braucht viel Übung, die Kunst des konstruktiven Streitens zu erlernen. Und es lohnt sich! Wenn das Thema sich nicht auf einmal lösen lässt, ist es wichtig, die Pausen zwischen den Gesprächen fruchtbar zu nutzen.

Stell dir in diesen Pausen folgende Frage:

Bin ich wirklich ganz allein im Recht oder ist vielleicht an dem, was mein Gegenüber sagt und empfindet, auch ein Quentchen Wahrheit und Berechtigung dabei?

 

Was ist das schlimme Gefühl, das ich gerade nicht fühlen möchte?

Wende dich diesem Gefühl zu und begegne ihm mit Verständnis und Mitgefühl. Gib diesem Gefühl die Erlaubnis, da zu sein. Öffne dein Herz für dieses Gefühl. Die Liebe, die du dir selbst dadurch gibst, lässt dich weicher und offener werden für eine konstruktive Lösung.

Möge es uns gelingen!

Vielleicht sind wir irgendwann so gelassen und klar, so weich und ohne Widerstände, dass sich Auseinandersetzungen leicht und schnell lösen lassen, ohne dass jemand vorschnell nachgibt oder sich dem Frieden zuliebe anpasst.

Herzlich

Anne-Katrin

Kontakt